György Ligeti: The Ligeti Project © 2016 Warner Classics 0825646028580
1949–50 hielt ich mich in Rumänien auf. Ich studierte am Folklore-Institut in Bukarest und nahm teil an mehreren Forschungsreisen zur Sammlung teils rumänischer, teils ungarischer Volksmusik (in Covăsint¸ bei Arad und in Inaktelke im Kalotaszeg-Gebiet nahe Klausenburg). Das vorliegende viersätzige Orchesterkonzert (mit Streicher- und Bläsersoli) basiert auf einer Vielzahl rumänischer Volksmelodien. Sie wurden von mir aufgezeichnet, doch stammen sie überwiegend von Wachsrollen und Schallplatten aus dem Bukarester Folklore-Institut. In Covăsint¸ dagegen habe ich die gängigen harmonischen Wendungen der rumänischen Bauernmusik kennengelernt, die ich stilisiert im Concert Românesc verwendet habe. Diese Orchesterkomposition war eines der »Camouflage-Stücke«, mit denen ich mich der aufoktroyierten »Sozrel«-Diktatur zu entziehen versuchte. Obwohl einigermaßen konform, entpuppte sich das Stück als »politically incorrect« infolge einiger verbotener Dissonanzen (zum Beispiel fis im Rahmen von F-Dur). Für den heutigen Hörer ist kaum nachvollziehbar, dass solche milden tonalen Scherze als staatsgefährdend deklariert wurden. Das Rumänische Konzert spiegelt meine tiefe Liebe zur rumänischen Volksmusik (und zur rumänischsprachigen Kultur schlechthin) wider. Es wurde damals sofort verboten und erst viele Jahrzehnte später aufgeführt.
Geschrieben am 6. September 2000. Erstdruck im Programmheft zum Festival „Gütersloh 2000: György Ligeti (3)“ in Gütersloh, 23.–26. November 2000, S. 26.
Über mein Concert Românesc und andere Frühwerke aus Ungarn
Ich wuchs in Siebenbürgen im ungarischsprachigen Milieu auf. Die Amtssprache war Rumänisch, doch diese Sprache erlernte ich erst im Gymnasium. So hatte die rumänische Sprache, als ich Kind war, etwas Geheimnisvolles für mich. Schon als Dreijähriger begegnete ich der rumänischen Folklore: Einmal hörte ich in den Karpaten einen Alphornspieler, ein andermal begegnete ich maskierten rumänischen »Zauberern«. Das Alphorn (rumänisch »bucium«) klang ganz anders als »normale« Musik. Heute weiß ich, worauf das beruht: dass das Alphorn ausschließlich Naturtöne erzeugt und die Obertöne fünf und sieben, also die große Terz und die kleine Septime, »falsch« klingen, und zwar niedriger als zum Beispiel auf dem Klavier. Dieses »Falsche« – das eigentlich das »Richtige« ist, denn es entspricht der akustischen Reinheit – ist das Wunderbare am Hornklang.
Einmal, um Neujahr, drangen wilde Musiker ungebeten in unseren Hof ein. Sie spielten Geige und Dudelsack (»cimpoi«). Einer von ihnen war maskiert, er trug einen Umhang aus Ziegenfell. Die Maske hatte Hörner und sah aus wie eine teuflische Ziege, statt des Mauls aber sah man eine Art Schnabel. Die Tradition schamanistischer Zauberei lebte noch in der Gemeinschaft rumänischer Hirten. Die Darstellung der Waldgeister war in Siebenbürgen nicht anders als etwa in Westafrika. Die »Ziege« tobte noch eine Weile herum, zwickte die Weiber, piesackte die erschrockenen Kinder und verlangte dann, die Maske aufklappend, etwas Geld.
1949, als ich sechsundzwanzig Jahre alt war, lernte ich das Aufzeichnen von Volksliedern nach dem Gehör – von Wachsrollen, im Bukarester Folklore-Institut. Viele Melodien blieben in meinem Gedächtnis haften: Daraus entstand 1951 das Rumänische Konzert. Nicht alles ist original rumänisch, einiges habe ich hinzugedichtet, im Geist der Dorfkapellen. Später konnte ich das Stück in Budapest bei einer Orchesterprobe hören – eine Aufführung wurde verboten. In der stalinistischen Diktatur war selbst Folklore nur in politisch korrekter Form erlaubt, zurechtgebogen nach den Normen des sozialistischen Realismus. Das heißt, Dur- Moll-Harmonisierungen (à la Dunajewski) waren willkommen, modale Orientalismen (wie bei Khatschaturjan) noch erlaubt, doch Strawinsky war mit dem Bann belegt. Die Eigenart der Harmonisierungen, wie sie die Dorfkapellen spielten, oft »schräg« und voller Dissonanzen, galt als inkorrekt. Im vierten Satz des Rumänischen Konzerts gibt es eine Stelle, bei der ein fis im Kontext von F-Dur erklingt. Das allein genügte den Kunstapparatschiks, um das ganze Stück zu verbieten.
Als Reaktion auf die politische Bevormundung entschloss ich mich, eine radikal dissonante und chromatische Musik zu entwickeln. Noch in Budapest, 1955–56, ersann ich die »schwarze Musik« – im Gegensatz zur »schönen«, modal-konsonanten »roten Musik« und zur dissonanten, jedoch diatonischen »grünen Musik«. (Diese Farbbezeichnungen waren meine persönlichen synästhetischen Konnotationen und hatten nichts mit der gängigen politischen Symbolik zu tun.) Die »schwarze Musik« basierte vor allem auf Schwebungen, also Interferenzmustern, die technisch aus einer eng chromatischen Übereinanderschichtung zahlreicher Stimmen resultieren. Vera, meiner Frau, war es gelungen, verbotene Bücher wie Thomas Manns Doktor Faustus und Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik illegal aus dem Westen zu beziehen – Bücher, die eine enorm befreiende Wirkung auf mich hatten. Sonst gab es keine Kontakte zum Westen, jeglicher Informationsaustausch war unterbunden, nur wenige Privilegierte hatten Reisepässe, und westliche Radiosendungen wurden durch kontinuierliche jaulende Störgeräusche unterdrückt.
Einige meiner »verbotenen« Orchesterstücke blieben Fragment, so Sötét és világos (»Dunkel und Hell«), ferner zwei Stücke für Chor und Orchester, ein Requiem und das Oratorium Istar pokoljárása (»Die Höllenfahrt der Ischtar«) nach einer Dichtung von Sándor Weöres. Meine Vorstellungen zielten in die Richtung einer synästhetischen Musik: Visuelle Assoziationen von Farbe und Licht und taktile Assoziationen von Materie, Dichte, Volumen, Raum traten an die Stelle von Motiven, Melodien, Harmonien, Rhythmus. Einzig in Istar gab es rhythmische Strukturen: eine Art Riesenuhrwerk, gleichsam mechanische Verläufe von unabhängigen Schichten in verschiedenen Geschwindigkeiten in Augmentation und Diminution. In all diesen Stücken war der Formverlauf statisch, das heißt es gab keine Entwicklung, nur Nebeneinanderstellung und Überlagerung. Beendet habe ich dagegen Víziók, ein total chromatisches Orchesterstück. Das war die erste Fassung von Apparitions, das ich in den folgenden Jahren im »Westen« auskomponierte. Leider ist Víziók verschollen, vielleicht in Budapest oder später im Moldenhauer-Archiv in den USA.
Das alles war »Musik für die Schublade«, im kommunistischen Ungarn konnte man von einer Aufführung nicht einmal träumen. Für westliche Bürger ist der Normalzustand im Sowjetreich nicht nachvollziehbar: Kunst und Kultur sind strengstens reglementiert, sie müssen – ganz ähnlich wie im Nationalsozialismus – abstrakten Konzepten entsprechen. Kunst muss »gesund« sein, »aufbauend«, »aus dem Volk kommend«, das heißt sie muss den Parteidirektiven entsprechen.
Später, im Westen, wurde mir von Journalisten öfters die Frage gestellt: »Für wen komponieren Sie?« Meine »östlichen« Erfahrungen hinderten mich daran, diese Frage wirklich zu verstehen. Ein »verbotener« Künstler fragt sich so etwas nicht, denn seine künstlerischen Hervorbringungen erreichen ohnehin kein Publikum. Ich komponierte also nicht »für« jemanden, sondern der Sache wegen, aus innerem Bedürfnis. Eine reale Aufführung – das erschien mir in Ungarn als unerreichbarer Luxus.
Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project II, 8573-88261-2), Hamburg 2002.
Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 151-153. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014