Sonate

Title
Sonate
for viola solo
Category
Solowerk
Viola
Duration
22:00
Number of performers
1
Composition year(s)
1991
World premiere
1991-11-18
II: Wien · Garth Knox, Viola
28.03.1993
III: Genf · Jürg Dähler, Viola
23.04.1994
I-VI: Gütersloh · Tabea Zimmermann, Viola
Movements
I Hora lung?
II Loop
III Facsar
IV Prestissimo con sordino
V Lamento
VI Chaconne chromatique
Commissioner
Stadt Gütersloh (together with Festival d'Automne, Paris and South Bank Centre, London)
Audio
Copyright

György Ligeti Edition Vol. 7 © 1998 Sony Music Entertainment Inc. ℗ 1998 Sony Music Entertainment Inc.
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Comment of the composer on the work

Scheinbar ist die Viola nur eine größere Violine, einfach eine Quinte tiefer gestimmt. Tatsächlich aber liegen Welten zwischen den beiden Instrumenten. Drei Saiten haben sie gemeinsam, die A-, D- und G-Saite. Durch die hohe E-Saite erhält der Klang der Violine eine Leuchtkraft und metallische Schärfe, die der Viola fehlen. Die Violine führt, die Viola bleibt im Schatten. Dafür besitzt die Viola durch die tiefe C-Saite eine eigenartige Herbheit, kompakt, etwas heiser, mit dem Nachgeschmack von Holz, Erde und Gerbsäure. Zwei Kammermusikwerke haben in mir schon seit vielen Jahren die Liebe zur C-Saite geweckt: Im letzten Schubert-Streichquartett (in G-Dur) und im langsamen Satz des Schumann-Klavierquintetts tritt die düstere Eleganz der Viola in den Vordergrund – und oft auch in Orchesterwerken von Berlioz. 1990 hörte ich in einem Konzert des Westdeutschen Rundfunks in Köln Tabea Zimmermanns Violaspiel, ihre besonders kernige und markige, doch stets zarte C-Saite war der Auslöser meiner Phantasien über eine Sonate für Viola solo. Schon mit dem Plan einer später zu schreibenden Sonate im Kopf komponierte ich 1991 das kurze Violastück »Loop« (jetzt der zweite Satz der Sonate) als Geburtstagsgeschenk für Alfred Schlee, den großartigen Verleger. 1993 schrieb ich »Facsar« (jetzt der dritte Satz) zum Gedenken an meinen in Bern verstorbenen, geliebten Kompositionslehrer Sándor Veress, einen zu Unrecht vergessenen bedeutenden Komponisten – seine Musik muss wieder gespielt werden! Ebenfalls 1993 bat mich Klaus Klein um ein Uraufführungsstück für Gütersloh, und Tabea Zimmermann sagte zu, die ganze Sonate zu spielen. Neu sind also die Sätze 1, 4, 5 und 6, von denen ich die beiden Ecksätze Tabea Zimmermann, den vierten Satz Klaus Klein und den fünften meiner langjährigen Mitarbeiterin Louise Duchesneau gewidmet habe.

Erster Satz »Hora lungă «: Er evoziert den Geist der rumänischen Volksmusik, die mich – zusammen mit der ungarischen und der der Zigeuner – in meiner Kindheit in Siebenbürgen stark geprägt hat. Ich habe aber keine Folklore komponiert und auch keine folkloristischen Zitate verwendet, eher scheint diese Musik in Allusionen auf. »Hora lungă« bedeutet wörtlich »Langsamer Tanz«, doch in der rumänischen Tradition (in der nördlichsten Provinz des Landes, Maramures¸, mitten in den Karpaten) ist das kein Tanz, vielmehr sind es gesungene Volkslieder, reich ornamentiert, nostalgisch und melancholisch. Sie haben auffällige Ähnlichkeit mit dem »Cante jondo« in Andalusien und auch mit Volksmusiken in Rajastan. Ob das mit den Zigeuner-Migrationen zusammenhängt oder ob es sich um eine alte, den Indoeuropäern gemeinsame diatonisch-melodische Tradition handelt, ist schwer zu entscheiden. Dieser Satz wird vollständig auf der C-Saite gespielt, wobei ich Naturintervalle (reine große Terz, reine kleine Septime, auch den elften Oberton) verwende.

Zweiter Satz »Loop«: Der Titel bezieht sich auf die Form: Dieselben melodischen Wendungen werden wiederholt, rhythmisch stets variiert und in immer schnellerem Tempo. Der Interpret spielt ausschließlich Doppelgriffe, wobei eine der beiden Saiten stets leer ist. Das zwingt den Spieler zu waghalsigem Lagenwechsel, was im schnellen Teil des Satzes eine »gefährliche Virtuosität« erzeugt. Außerdem muss dieser Satz im Geist des Jazz gespielt werden, elegant und »relaxed«.

Dritter Satz »Facsar«: »Facsar« ist ein ungarisches Zeitwort, das »wringen« oder »verdrehen« heißt und sich auch auf das ziehende, bittere Gefühl bezieht, das man in der Nase spürt, wenn man weinen muss. Dies ist ebenfalls ein Doppelgriffstück, eine Art gemessener Tanz mit verrückten, verdrehten Modulationen, pseudotonal.

Vierter Satz »Prestissimo con sordino«: Aus einer gleichmäßigen Perpetuum mobile-Bewegung (wie schon in meinem Cembalostück Continuum) schälen sich allmählich, durch polyrhythmische Akzentuierung und durch das Ausnutzen der kontrastierenden Charaktere der einzelnen Saiten, halb versteckte, illusionistische Melodiefragmente heraus, etwa im Geiste von Maurits Escher.

Fünfter Satz »Lamento«: Strenge Zweistimmigkeit, hauptsächlich in Sekund- und Septimparallelen. Indirekter Einfluss von verschiedenen ethnischen Kulturen: Ähnliche Sekund-Zweistimmigkeit gibt es auf dem Balkan (in Bulgarien, Mazedonien, Istrien), an der Elfenbeinküste (Guéré) und in Melanesien (auf der Insel Manus).

Sechster Satz »Chaconne chromatique«: Man sollte keine Anspielung auf die berühmte Bach-Chaconne erwarten, meine Sonate ist viel bescheidener, nicht historisierend, auch verträgt sie keine Monumentalformen. Ich verwende das Wort Chaconne im ursprünglichen Sinn – als wilden ausgelassenen Tanz in stark akzentuiertem Dreivierteltakt mit ostinater Basslinie.

Geschrieben im März 1994 als Einführungstext zur Uraufführung des vollständigen Werkes in Gütersloh am 23. April 1994. Erstdruck im Programmheft zum Festival »Gütersloh ’94 : Musikfest für György Ligeti«, 16.–24. April 1994, S. 20–23.

Zur Sonate für Viola solo

Die Sonate für Viola solo entstand in Etappen zwischen 1991 und 1994. Oberflächlich betrachtet besteht sie aus einer Folge von sechs verschiedenen Charakterstücken und ist, trotz ihrer Virtuosität, formal recht einfach. »Verstehen« kann man ihren musikalischen Sinn aber nur im Zusammenhang mit meinen anderen Stücken aus derselben Zeit: dem Violinkonzert, dem zweiten Band der Klavieretüden und den Nonsense Madrigals.

Der erste Satz ist »Hora lungă « betitelt und bezieht sich auf eine Gattung von langsamen, stereotype melodische Wendungen und Figuren aneinanderreihenden rumänischen Volksliedern aus dem Maramures¸-Gebiet im Norden des Karpatenbogens. Der Satz zitiert aber keine einzige bekannte Melodie, sondern gehört eher in seinem Duktus zu dieser Volksliedgattung, die öfters eine Reihe von Obertönen verwendet – schillernd zwischen lydisch und mixolydisch. Bartók prägte dafür den Terminus »akustische Skala« oder »akustischer Modus«.

Die Viola spielt in diesem Satz ausschließlich auf der wunderbar und herb klingenden C-Saite. (Ich hatte bereits vor Jahren Tabea Zimmermanns Spiel auf der C-Saite gehört und war davon begeistert; dieser Klang führte mich später zur Konzeption der Sonate.) Nun wären Obertöne (Flageolettöne) auf der C-Saite kinderleicht auszuführen, und sie tauchen auch auf, doch nur als »Fußnoten«. Ich stellte mir indessen vor, die Bratsche hätte eine um eine Quinte tiefere, real nicht vorhandene F-Saite und deren fünfter, siebter und elfter Oberton wären dann die im temperierten System »falsch« klingenden Naturtöne. Da die F-Saite imaginär ist, bitte ich den Interpreten, die Intonationsabweichungen bewusst zu greifen. Das klingende Ergebnis ist dann eigenartig fremd.

Was ich hier über den ersten Satz schreibe, gilt – entsprechend abgewandelt – für die Fremdartigkeit der ganzen Sonate. Einen Sinn erhält diese Musik nur auf einer abstrakteren, übertragenen Ebene. Den sechsten Satz kann man wörtlich als eine aus der Barockzeit überkommene Chaconne mit Lamentobass auffassen, doch diese Interpretation ist irreführend. Meine Nonsense Madrigals sind Nonsense und wären allein weder im Britischen Königreich noch in den Budapester Literatencafés der dreißiger Jahre verständlich. Ihr Sinn ergibt sich erst aus der Zusammenschau von London und Budapest, von Pickwick Papers und Frigyes Karinthy. Wer aber kein Ungarisch kann, dem bleibt das britische Understatement als die bessere Hälfte der Gleichung. Diese Art von Humor ist der Schlüssel zur Solosonate.

Für mich als zehn- bis elfjährigen Buben bedeutete die ungarische Übertragung von Alice in Wonderland des erwähnten Karinthy ein Urerlebnis. Lewis Carroll ist aber nur eine der zahlreichen Konnotationsschichten. Streichertechnisch betrachtet, insbesondere hinsichtlich der komplexen Mehrfachgriffe, bilden die drei Violin-Solosonaten von Bach nicht nur die Grundlage der instrumentalen Konzeption, sondern – so vor allem die C-Dur-Sonate – das nie erreichbare Ideal: Asymptotisch strebe ich dorthin. Doch es erscheint mir als Gotteslästerung, hier von Bach zu sprechen.

Einführungstext (1997) für das Begleitheft zur CD-Edition bei Sony Classical (György Ligeti Edition 7, »Chamber Music«, SK 62309), 1998.

Abdruck aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 308-311. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014

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